Heidegger Part I German

Der Fall Martin Heidegger, Philosoph und Nazi

Teil 1: Die Bestandsaufnahme

Von Alex Steiner
28. April 2000

Wir beginnen heute mit einer dreiteiligen Serie über das Leben und Werk des deutschen Philosophen Martin Heidegger. Teil 2 und 3 werden in den kommenden Tagen erscheinen.

Martin Heidegger (1889-1976) wird von vielen als einer der Titanen der Philosophie im zwanzigsten Jahrhundert angesehen. Er erwarb sich internationalen Ruf mit dem Erscheinen von Sein und Zeit im Jahre 1927. Der junge Jürgen Habermas charakterisierte das Buch als "das bedeutendste philosophische Ereignis seit Hegels Phänomenologie..." [1]

Der Erfolg von Sein und Zeit war unmittelbar und sein Einfluss umfassend. Viele Strömungen der zeitgenössischen Philosophie in den letzten 70 Jahren wurden vom Werk Heideggers inspiriert und sind in einigen Fällen direkt aus ihm hervorgegangen. Unter ihnen können wir den Existentialismus, die Hermeneutik, den Postmodernismus und den Öko-Feminismus und zahlreiche Trends der Psychologie, Theologie und Literatur erwähnen. Seine Schriften beeinflussten so unterschiedliche Denker wie Herbert Marcuse, Jean-Paul Satre, Jaques Derrida, Paul Tillich und zahllose andere. Heideggers bemerkenswerte Laufbahn als Professor der Philosophie an der Universität Freiburg wurde von einem außergewöhnlichen Ereignis in seinem Leben verdorben. Nach Hitlers Machtübernahme im Jahre 1933 wurde aus Heidegger, dem Philosophen mit Weltruf, Heidegger der Nazi mit der Mitgliedsnummer 3125894 auf dem Parteiausweis.

Die Diskussion über Heideggers Verhältnis zum Nationalsozialismus ist in letzter Zeit über akademische Fachzeitschriften hinausgegangen und zum Thema in der populären Presse und den Massenmedien geworden. Im vergangenen Jahr strahlte die BBC eine Fernsehserie über drei Philosophen, die unsere Epoche stark beeinflusst haben, Nietzsche, Heidegger und Satre, aus. Die Folge über Heidegger kam nicht umhin, seine Unterstützung für den Nationalsozialismus zu diskutieren. Ende letzten Jahres veröffentlichte die New York Review of Books einen Artikel über die Beziehung zwischen Heidegger und seinen Kollegen Karl Jaspers und Hannah Arendt.

All diese öffentliche Aufmerksamkeit für das, was zuvor ein dunkles Kapitel im Leben eines sehr bekannten Philosophen war, hat eine Welle der Bestürzung verursacht. Zum Beispiel schrieb ein Zuschauer der BBC-Serie über sein Entsetzen, dass "die Tiefe seiner [Heideggers] Zusammenarbeit mit den Nazis erst in jüngster Zeit [...] herausgebracht wurde". Die lang anhaltende Kurzsichtigkeit im Fall von Heidegger kann direkt einer systematischen Verschleierung zugeschrieben werden, die von Heidegger selbst während und nach seiner Zeit als Nazi betrieben wurde und von seinen Schülern und Verteidigern bis heute fortgeführt wird. Bevor wir die Geschichte der Vertuschung untersuchen, die selbst ein langes und faszinierendes Kapitel in den Annalen der historischen Fälschung darstellt, werden wir uns zunächst mit den Tatsachen der Beziehung Heideggers zu den Nazis beschäftigen.

Die Tatsachen können seit der Veröffentlichung des Buches Heidegger und der Nationalsozialismus von Victor Farías im Jahre 1987 nicht länger ernsthaft bestritten werden. [2] Farías ist ein in Chile geborener Student Heideggers, der ein Jahrzehnt damit verbrachte, praktisch sämtliche relevante Dokumente in Bezug auf Heideggers Aktivitäten in den Jahren 1933 bis 1945 ausfindig zu machen. Viele dieser Dokumente wurden in den Archiven der ehemaligen DDR und im Documentation Center des früheren West-Berlins gefunden. Farías Buch stellt einen Meilenstein dar und seit seiner Veröffentlichung sind eine Reihe von Büchern und Artikeln erschienen, die die Fragen im Zusammenhang mit Heideggers Unterstützung für den Nationalsozialismus untersuchen. Eine ausgezeichnete Zusammenfassung des historischen Materials kann in einem Artikel aus dem Jahr 1988, Heidegger and the Nazis, gefunden werden. [3]

Heidegger wurde im schwäbischen Ort Messkirch geboren und wuchs dort auf. Die Region war ökonomisch rückständig, dominiert von kleinbäuerlicher Landwirtschaft und kleinen Fabriken. Die Politik der Region war erfüllt von einem volkstümlichen Katholizismus, der in enger Verbindung zum deutschen Nationalismus, Xenophobie und Antisemitismus stand. Moderne Kultur und die damit verbundenen Ideale des Liberalismus wie auch des Sozialismus wurden als Todsünden angesehen. Die Sozialdemokratische Partei und ihr wachsender Einfluss in ganz Deutschland wurde in dieser Region als "Hauptfeind im Inneren" betrachtet. In den nachfolgenden Jahrzehnten wurde diese Gegend zu einer der Bastionen der Unterstützung für den Nationalsozialismus.

Heideggers Familie entstammte der unteren Mittelklasse. Seine Mutter war bäuerlicher Herkunft und sein Vater Handwerker. Er war ein vielversprechender Schüler und erhielt ein Stipendium für den Besuch einer weiterführenden Schule in Konstanz. Dort besuchte er eine Schule, die auf das Noviziat vorbereitete. Die Schule war von der katholischen Kirche als Bastion der Konservatismus gegen den wachsenden Einfluss von Liberalismus und Protestantismus in der Region eingerichtet worden. Nichtsdestotrotz verschrieben sich einige säkulare Fakultäten der Schule demokratischen und fortschrittlichen Idealen. Ihre Vorlesungen waren unter den beliebtesten an der Schule. Wir wissen nicht genau, wie diese progressiven Ideen von dem jungen Heidegger aufgenommen wurden. Wir wissen, dass er in einer frühen und prägenden Periode bereits mit dem Wechselspiel der Ideen, die in diesem Teil Deutschlands um die Vorherrschaft kämpften, konfrontiert war. Wir wissen auch, dass Heidegger zu der Zeit als er seine Hochschulreife erhielt, den Ruf Priester zu werden zurückwies und sich für eine akademische Laufbahn entschied. Auch war er stark verwickelt in die Partei- und Kulturkämpfe seiner Zeit. Als er Anfang Zwanzig war, war er Anführer einer Studentenbewegung, die die Ideale des rechten katholischen Populismus vertrat.

Die reaktionären und xenophobischen Kräfte in der Region wurden infolge des Ersten Weltkriegs und der russischen Revolution gestärkt. Das Ergebnis des Krieges, festgeschrieben im Versailler Vertrag, bedeutete nicht nur eine erniedrigende Niederlage für die Nationalisten, sondern auch den Verlust von Gebieten an Frankreich. Die verlorenen Gebiete wurden zur Cause célèbre in rechten, nationalistischen Kreisen nach dem Krieg. Die russische Revolution auf der anderen Seite inspirierte die Arbeiterklasse in Deutschland, aber unter den größtenteils katholischen Bauern im ländlichen Süddeutschland verbreitete sie Angst und Schrecken. Ein Gefühl der Krise im welthistorischen Ausmaß bestimmte die Ideologie der rechts-nationalistischen Bewegung in dieser Zeit. Dieser Zeitgeist wurde von dem Philosophen Oswald Spengler, der wiederum von Friedrich Nietzsche beeinflusst war, zum Ausdruck gebracht. Wir wissen, dass Heidegger zu Beginn seiner Laufbahn Sympathien für den nationalistischen Standpunkt hegte. Es ist auch erwiesen, dass das Gefühl der Krise, das in diesem historischen Kontext auftrat, ein Thema wurde, das sich Heidegger als Philosoph in seiner gesamten Laufbahn bewahrte.

Dokumente belegen, dass Heidegger bereits 1932 Sympathie für die Nazis bekundete. Wenn man seine Vorgeschichte betrachtet, sollte einen dies nicht verwundern. Unmittelbar nach Hitlers Machtübernahme trat Heidegger den Nationalsozialisten bei. Heidegger war ein Beitrag zahlendes Mitglied der NSDAP von 1933 bis 1945. Er wurde Rektor der Freiburger Universität im April 1933, drei Monate nachdem Hitler an die Macht gekommen war. Seine schändliche Antrittsrede hielt er am 27. Mai 1933. Heideggers Verteidiger haben behauptet, dass dieses Grußwort einen Versuch darstellte, die Autonomie der Universität zu behaupten gegen die Anstrengungen der Nazis, die Wissenschaft ihrer reaktionären Doktrin unterzuordnen.

Tatsächlich aber war die Rede ein Ruf zu den Waffen für die Studentenschaft und die Fakultät, um dem neuen nationalsozialistischen Regime zu dienen. Sie feierte den Aufstieg der Nazis als "den Marsch, den unser Volk in seine künftige Geschichte angetreten hat". Heidegger identifiziert die deutsche Nation mit dem nationalsozialistischen Staat in Worten von dem Volk, das sich selbst in "seinem" Staat weiß. Es gibt sogar einen Hinweis auf die faschistische Ideologie des zoologischen Determinismus, wenn Heidegger "die Macht der tiefsten Bewahrung seiner [des Volks] erd- und blutnahen Kräfte" beschwört. [4]

Am 30. Juni 1933 hielt Heidegger eine Rede vor der Heidelberger Studentenvereinigung, in der er seine Sicht auf die Rolle der Universität in der neuen nationalsozialistischen Ordnung darstellte. Der folgende Auszug wirft ein Schlaglicht auf Heideggers Bindung an die nationalsozialistischen Ideale von Blut, Rasse und absoluter Unterwürfigkeit gegenüber dem Führer.

Heidegger empfahl in seiner Rede, die Universitäten in die Volksgemeinschaft einzugliedern und mit dem Staat zu verbinden. Die Universitäten müssten dazu jedoch auf den Stil ihrer Forschung verzichten, dem jede Grenze aus dem Blick gerückt sei und der sich selbst betrüge mit der Vorspiegelung eines internationalen Fortschritts der Wissenschaft.

"Dagegen ist ein scharfer Kampf zu führen im nationalsozialistischen Geist, der nicht ersticken darf durch humanisierende, christliche Vorstellungen...

Von der Arbeit für den Staat kommt keine Gefahr, nur von Gleichgültigkeit und Widerstand. Deshalb soll nur die echte Kraft die Möglichkeit zum rechten Weg haben, aber keine Halbheit."

Das Studium müsse "wieder ein Wagnis werden, kein Schutz für die Feigen. Wer den Kampf nicht besteht, bleibt liegen. Der neue Mut muss sich zur Stetigkeit gewöhnen, denn der Kampf um die Erziehungsstätten der Führenden wird lange dauern. Er wird gekämpft aus den Kräften des neuen Reichs, das der Volkskanzler Hitler zur Wirklichkeit bringen wird. Ein hartes Geschlecht ohne den Gedanken an Eigenes muss ihn bestreiten, das aus ständiger Prüfung lebt und zu dem Ziel, dem es sich verschrieb. Der Kampf geht um die Gestalt des Lehrers und Führers an der Universität." [5]

Nach dem Krieg versuchte Heidegger ein entlastendes Bild von seiner Zeit als Rektor zu entwerfen und behauptete, dass er die Integrität der Universität verteidigt habe gegen die Versuche der Nazis, sie für ihre politischen Zwecke zu nutzen. Sein Pech war, dass diese und andere Reden von ihm Beweisstücke darstellen, die sein angestrebtes Alibi zunichte machten.

Dokumente aus Heideggers Periode als Rektor markieren folgende Ereignisse:

Am 21. August 1933 setzte Heidegger das Führerprinzip in Freiburg durch. Dies bedeutete, dass der Rektor nicht mehr wie üblich von der Fakultät gewählt, sondern fortan vom nationalsozialistischen Erziehungsminister ernannt wurde. Mit dieser Stellung besaß der Führerrektor uneingeschränkte Autorität über das universitäre Leben. Am 1. Oktober 1933 erreichte er sein Ziel, als er offiziell zum Führer der Freiburger Universität ernannt wurde. Für Heidegger war dies ein Meilenstein in seinem Bestreben, der führende Philosoph des Naziregimes zu werden. Er stellte sich eine Beziehung vor, in der er der Hofphilosoph Hitlers wäre.

Am 4. September 1933, in Antwort auf einen Ruf der Universität München, schrieb er: "Ich bin noch nicht gebunden, nur das weiß ich, dass ich unter Zurückstellung alles Persönlichen mich für die Aufgabe entscheiden muss, durch deren Erfüllung ich dem Werk Adolf Hitlers am besten diene." [6]

Am 3. November 1933 erließ Heidegger in seiner Rolle als Führerrektor ein Dekret, das die Rassengesetze der Nazis auf die Studentenschaft der Universität anwandte. Der Kern des Erlasses bestand in der Gewährung von Vergünstigungen für Studenten, die der SS, der SA und anderen Wehrverbänden angehörten. Jüdischen oder marxistischen Studierenden und jedem, der nach den Gesetzen der Nazis als Nicht-Arier angesehen wurde, wurde finanzielle Hilfe verweigert. [7]

Am 13. Dezember 1933 bat Heidegger bei deutschen Akademikern um Spenden für die Herausgabe eines Buches mit Pro-Hitler-Reden, das weltweit vertrieben werden sollte. Am Ende des Briefes merkte er an: "Es bedarf keines besonderen Hinweises, dass Nichtarier auf dem Unterschriftenblatt nicht erscheinen sollen." [8]

Am 22. Dezember 1933 schrieb Heidegger dem badischen Kultusminister mit dem dringenden Anliegen, dass bei der Auswahl der Bewerber für eine Professur danach entschieden werden solle, welcher Kandidat dem nationalsozialistischem Regime und seiner Vorstellung von Erziehung am nächsten stände. [9]

Die Dokumente zeigen auch, dass Heidegger, während er öffentlich die Sache der Nazis lobpreiste, im Privaten daran arbeitete, die Karriere von Studenten und Kollegen zu zerstören, die jüdischer Herkunft waren oder ihm in ihren politischen Ansichten suspekt erschienen. Unter den erdrückenden Beweisen, die gefunden wurden, finden sich folgende Fälle:

Hermann Staudinger, ein Professor für Chemie in Freiburg, dem später, im Jahre 1953, der Nobelpreis verliehen wurde, wurde von Heidegger heimlich aufgrund seines Pazifismus im Ersten Weltkrieg denunziert. Diese Information wurde dem örtlichen Kultusminister am 10. Februar 1934 übermittelt. Staudinger wurde mit dem Verlust seiner Arbeit und seiner Pension konfrontiert. Einige Wochen später setzte Heidegger sich beim Minister für eine mildere Strafe ein. Diese Handlung war nicht durch ein schlechtes Gewissen oder plötzliches Mitleid motiviert, sondern einfach eine taktische Reaktion, da Heidegger fürchtete, dass die Entlassung eines sehr bekannten Akademikers international Aufmerksamkeit erregen könnte. Er schrieb dem Minister, dass seine Bitte, Staudinger nur in den Ruhestand zu versetzen, an seiner Einschätzung der Sache selbst nichts ändere; es gehe allein darum, neuerliche Komplikationen mit dem Ausland zu vermeiden. Das Ministerium zwang Staudinger, einen Antrag auf Entlassung zu unterschreiben. Dieser Antrag lag sechs Monate bei den Akten, bevor das Ministerium, da keine "neuerliche[n] Bedenken" aufgetaucht waren, Staudinger zugestand, seinen Antrag zurückzuziehen, und ihn wieder in seine Position einsetzte. [10]

Der Fall von Eduard Baumgarten bietet ein anderes Beispiel für den krassen Opportunismus und die Rachsucht, die von Heidegger an den Tag gelegt wurde. Baumgarten war ein Student der amerikanischen Philosophie, der an der Universität von Wisconsin in den 20-er Jahren Vorlesungen gehalten hatte. Er kehrte nach Deutschland zurück, um unter Heidegger zu studieren, und die zwei Männer schlossen eine enge Freundschaft. Im Jahr 1931 entbrannte allerdings ein persönlicher Streit unter ihnen, nachdem sich Heidegger gegen Baumgartens Werk über den amerikanischen Pragmatismus gewandt hatte. Baumgarten verließ Freiburg, um amerikanische Philosophie an der Universität von Göttingen zu unterrichten. Am 16. Dezember 1933 übernahm Heidegger einmal mehr die Rolle des Denunzianten und schrieb einen Brief an den Kopf der nationalsozialistischen Professoren in Göttingen, der wie folgt lautete: "Dr. Baumgarten kommt verwandtschaftlich und seiner geistigen Haltung nach aus dem liberal-demokratischen Heidelberger Intellektuellenkreis um Max Weber. Während seines hiesigen Aufenthalts [in Freiburg] war er alles andere als ein Nationalsozialist. Ich bin überrascht zu hören, dass er in Göttingen Privatdozent ist, denn ich kann mir nicht denken, aufgrund welcher wissenschaftlichen Leistungen er zur Habilitation zugelassen wurde. Nachdem Baumgarten bei mir gescheitert war, verkehrte er sehr lebhaft mit dem früher in Göttingen tätig gewesenen und nunmehr hier entlassenen Juden Fränkel." [11]

Dr. Vogel, der Empfänger dieses Briefes, beurteilte ihn als "hassgeladen, unbrauchbar" und weigerte sich, den Brief zu verwenden. Sein Nachfolger allerdings sandte ihn an den Minister für Erziehung in Berlin, der Baumgarten entließ und ihm empfahl, das Land zu verlassen. Baumgarten hatte das Glück, eine Kopie von dem Brief Heideggers durch einen sympathisierenden Sekretär zu erhalten. Nur aufgrund dieser Umstände existiert dieses Beweisstück heute noch. Es ist unmöglich abzuschätzen, wie viele andere vergiftete Briefe von Heidegger in dieser Zeit geschrieben wurden. Baumgarten bekam seine Arbeit zurück, nachdem er an die nationalsozialistischen Autoritäten appelliert hatte. Diese Tatsachen wurden im Zuge der Anhörungen zur Entnazifizierung im Jahre 1946 ans Licht gebracht.

Man könnte noch den Zwischenfall mit Max Müller erwähnen. Müller, der nach dem Krieg ein bekannter katholischer Intellektueller wurde, war einer von Heideggers besten Studenten in den Jahren 1928 bis 1933. Er war auch ein Gegner des Nationalsozialismus. Er hörte auf, Heideggers Vorlesungen zu besuchen, nachdem letzterer am 1. Mai 1933 der NSDAP beigetreten war. Einige Monate später nutzte Heidegger seine Autorität als Führerrektor, um Müller von seiner Position als Studentenführer zu entfernen. Aber das war noch nicht das Ende der Geschichte. 1938 intervenierte Heidegger, obwohl er nicht mehr Rektor war, ein weiters Mal bei den Autoritäten, um zu verhindern, dass Müller einen Lehrauftrag in Freiburg bekam. Er schrieb an die Universitätsverwaltung, dass Müller gegenüber dem Regime "negativ eingestellt" sei. Dieser eine Satz bedeutete effektiv das Ende von Müllers akademischer Laufbahn. Müller wandte sich an Heidegger persönlich und bat ihn, den belastenden Satz aus seiner Empfehlung zu streichen. Heidegger spielte die Rolle des Pilatus, weigerte sich dies zu tun und belehrte Müller, indem er dessen Katholizismus ansprach: "Als Katholik müssten Sie wissen, dass man die Wahrheit sagen muss." [12]

Zuletzt gibt es den Fall vom Umgangs Heideggers mit seinem ehemaligen Lehrer Edmund Husserl. Husserl gründete die philosophische Schule der Phänomenologie und genoss einen internationalen Ruf, der dem Heideggers gleichkam. Husserl war außerdem Jude. Er fiel unter den Erlass der Rassengesetzen und ihm wurde verweigert, die Universitätsbibliothek in Freiburg zu benutzen. Bei der Umsetzung der Nazierlasse tat Heidegger nicht nur einfach seine Pflicht als nationalsozialistischer Führerrektor. Es gibt zahlreiche Beweise, die vermuten lassen, dass er begeistert eine Mission erfüllte, mit der er sich identifizierte. Nach dem Zeugnis der Witwe des Philosophen Ernst Cassirer war Heidegger persönlich ein Antisemit. In den letzten Jahren sind andere Beweise ans Licht gekommen, die vermuten lassen, dass Heideggers Antisemitismus nach dem Krieg nicht verschwand. Ein Augenzeuge, Rainer Marten, gab ein Gespräch mit Heidegger gegen Ende der 50-er Jahre wieder, in dem der berühmte Professor seine Besorgnis über die Erneuerung des jüdischen Einflusses in den philosophischen Abteilungen der deutschen Universitäten Ausdruck gab. [13]

Heideggers Verteidiger, zuletzt Rüdiger Safranski, haben versucht, ihn von jeder persönlichen Verantwortung für das Schicksal von Husserl freizusprechen. Sie stellen heraus, dass Heidegger niemals einen Erlass unterzeichnete, der spezifisch Husserls Zugang zur Universität beschränkte. [14] Aber diese in ihrer Konstruktion beschränkte Verteidigung entbindet Heidegger kaum von seiner Komplizenschaft als Durchführender der antijüdischen Erlasse der Nazis; Erlasse, von denen er wusste, dass sie vernichtende Folgen für frühere Freunde und Kollegen haben würden. Sie gibt ebenfalls keine mögliche Erklärung, die Heidegger befreien würde von der schändlichen Tat, dass er bei der Neuauflage seines Werkes Sein und Zeit im Jahre 1941 die Widmung an seinen Mentor Husserl entfernte.

Nach dem Krieg machte Heidegger viel aus der Tatsache, dass er von seinem Posten als Rektor nach dem 30. Juni 1934 zurücktrat. Dies fiel zusammen mit der berüchtigten "Nacht der langen Messer", ein von Kräften, die loyal gegenüber Hitler waren, veranstaltetes dreitägiges Blutbad, in dem Ernst Röhm und über einhundert seiner SA-Leute ermordet wurden. Heidegger bestand später darauf, dass er nach diesem Tag endgültig mit dem Nationalsozialismus gebrochen habe. Doch in einer Vorlesung über Metaphysik ein Jahr nach diesem Ereignis verwies Heidegger öffentlich auf die "innere Wahrheit und Größe" des Nationalsozialismus:

"Was heute vollends als Philosophie des Nationalsozialismus herumgeboten wird, aber mit der inneren Wahrheit und Größe dieser Bewegung (nämlich mit der Begegnung der planetarisch bestimmten Technik und des neuzeitlichen Menschen) nicht das Geringste zu tun hat, das macht seine Fischzüge in diesen trüben Gewässern der ‚Werte‘ und der ‚Ganzheiten‘."[15]

Es ist auch wahr, dass sich Heidegger von bestimmten Aspekten des Nationalsozialismus zu distanzieren begann. Farías argumentiert in seinem Buch überzeugend, dass Heidegger nach 1934 der existierenden Nazipartei eine idealisierte Version des Nationalsozialismus als Alternative gegenüberstellte. Nach Farías identifizierte Heidegger diesen utopischen Nationalsozialismus mit der unterlegenen Röhm-Fraktion. Die These von Heideggers Beziehung zu Röhm hat eine große Kontroverse hervorgerufen und konnte nie zufriedenstellend geklärt werden. Es ist allerdings eine unbestreitbare Tatsache, dass Heidegger an eine Form des Nationalsozialismus, "die innere Wahrheit dieser Bewegung", bis zu seinem Todestag glaubte.

Es gibt eine weitere biografische Tatsache, über die die Verteidiger Heideggers nicht hinweggehen können. Heidegger war sein Leben lang der Freund eines Mannes namens Eugen Fischer. Fischer war in den ersten Jahren der Naziherrschaft als führender Befürworter der Rassengesetze aktiv. Er war der Leiter des Instituts für Rassenhygiene in Berlin, das die Rassentheorien der Nazis propagierte. Einer der "Forscher" an seinem Institut war der berüchtigte Dr. Joseph Mengele. Fischer war einer der geistigen Väter der nationalsozialistischen "Endlösung". Heidegger bewahrte eine herzliche Beziehung zu Fischer zumindest bis ins Jahr 1960, in dem er Fischer ein Weihnachtsgeschenk mit Grüßen sandte. Es scheint nicht vermessen, anzunehmen, dass Heidegger aufgrund seiner persönlichen Beziehung zu Fischer zu einem sehr frühen Zeitpunkt von den Völkermordplänen der Nazis gewusst haben könnte. [16]

Die Bestandesaufnahme zeigt, dass Heidegger nach dem Krieg seine Unterstützung für die Nazis niemals öffentlich oder privat als Unrecht oder Schuld anerkannt hat. Und dies obwohl er von ehemaligen Freunden, darunter Karl Jaspers und Herbert Marcuse, gedrängt wurde, sich nun, nachdem er sicher war, gegen die vielen vom Naziregime begangenen Verbrechen auszusprechen. Heidegger tat dies nie. In einem Vortrag vom 1.Dezember 1949 verwies er allerdings flüchtig auf den Holocaust. Er sagte:

"Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen das Selbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern, das Selbe wie die Blockade und Aushungerung von Ländern, das Selbe wie die Fabrikation von Wasserstoffbomben." [17]

Indem er die Probleme der mechanisierten Landwirtschaft mit dem Holocaust gleichsetzte und dabei den letzteren bagatellisierte, demonstrierte Heidegger seine Verachtung für die jüdischen Opfer der Nazis. Wir kommen auf dieses Thema später zurück, wenn wir Heideggers Philosophie untersuchen.

Nach dem Krieg entschloss sich Heidegger in erster Linie Schweigen zu bewahren über seine Aktivitäten zugunsten der Nazis. Die wenigen Gelegenheiten, bei denen Heidegger eine öffentliche Stellungnahme wagte, waren bemerkenswert. Der erste Fall, in dem er überhaupt eine Einschätzung dieser Periode abgab, war ein eigennütziges Dokument, das er für die Entnazifizierungskommission geschrieben hatte. Wir werden dies im kommenden Teil der Artikelserie kommentieren. Die wichtigste Stellungnahme Heideggers in der Nachkriegszeit zu seinen politischen Aktivitäten in der Vorkriegszeit war ein Interview mit dem Magazin Der Spiegel aus dem Jahre 1966. Weil Heidegger darauf bestand, wurde das Interview erst nach seinem Tod 1976 veröffentlicht. Ein großer Teil der Diskussion dreht sich um die Frage der Technologie und die Bedrohung, die eine unbeschränkte Technologie für den Menschen darstellt. An einem Punkt sagt Heidegger:

"Es ist für mich heute eine entscheidende Frage, wie dem heutigen technischen Zeitalter überhaupt ein - und welches - politisches System zugeordnet werden kann. Auf diese Frage weiß ich keine Antwort. Ich bin nicht überzeugt, dass es die Demokratie ist." [18]

Nachdem er eine ahistorische Vorstellung von der Technologie als absoluter Fluch für die Existenz der Menschheit entwickelt hat, erklärt Heidegger dann, wie er die nationalsozialistische Lösung dieses Problems begreift:

"[I]ch sehe gerade die Aufgabe des Denkens darin, in seinen Grenzen mitzuhelfen, dass der Mensch überhaupt erst ein zureichendes Verhältnis zum Wesen der Technik erlangt. Der Nationalsozialismus ist zwar in die Richtung gegangen; diese Leute aber waren viel zu unbedarft im Denken, um ein wirklich explizites Verhältnis zu dem zu gewinnen, was heute geschieht und seit drei Jahrhunderten unterwegs ist." [19]

Es kann nicht bestritten werden, dass Heidegger zum Zeitpunkt seines Todes den Nationalsozialismus als eine politische Bewegung ansah, die in die richtige Richtung gegangen war. Wenn sie versagt hatte, dann weil seine Führer nicht radikal genug über das Wesen der Technologie dachten.

Teil 2: Die Vertuschung

Teil 3: Geschichte, Philosophie und Mythologie

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1 Jürgen Habermas, Zur Veröffentlichung von Vorlesungen aus dem Jahre 1935, in: Ders., Philosophisch-politische Profile, Frankfurt am Main 1971, S. 67

2 Victor Farías, Heidegger und der Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1989

3 Thomas Sheehan, Heidegger and the Nazis, in: New York Review of Books vom 16. Juni 1988

4 Martin Heidegger, Die Selbstbehauptung der deutschen Universität, Rede vom 27. Mai 1933, zit. nach: Victor Farías, a.a.O., S. 155ff.

5 Martin Heidegger, Die Universität im Neuen Reich, Vorlesung vom 30. Juni 1933, zit. nach: Victor Farías, a.a.O., S. 200f.

6 Zit. nach: Victor Farías, a.a.O., S. 228

7 Vgl. Victor Farías, a.a.O., S.177

8 Zit. nach: Victor Farías, a.a.O., S.224

9 Vgl. Thomas Sheehan, a.a.O.

10 Vgl. Victor Farías, a.a.O., S. 178

11 Zit. nach: Victor Farías, a.a.O., S. 283

12 Max Müller, Martin Heidegger - Ein Philosoph und die Politik, Ein Gespräch mit Bernd Martin und Gottfried Schramm, in: Günther Neske und Emil Kettering (Hg.), Antwort - Martin Heidegger im Gespräch, Tübingen 1988, S.206

13 Vgl. Rainer Marten, Heideggers Geist, in: Jürg Altwegg (Hg.), Die Heidegger Kontroverse, Frankfurt am Main 1988, S. 232

14 Vgl. Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Martin Heidegger und seine Zeit, München 1994, S. 301

15 Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung von 1935, zit. nach: Victor Farías, a.a.O., S. 303

16 Vgl. Richard Wolin, French Heidegger Wars, in: Richard Wolin (Hg.), The Heidegger Controversy - A Critical Reader, 1998, S. 282

17 Zit. nach: Victor Farías, a.a.O., S. 376

18 Nur noch ein Gott kann uns retten - Spiegel-Interview mit Martin Heidegger, Der Spiegel vom 31. Mai 1976, in: Günther Neske und Emil Kettering (Hg.), a.a.O., S. 96

19 Nur noch ein Gott kann uns retten - Spiegel-Interview mit Martin Heidegger, a.a.O., S. 105

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